Coworking ist mehr als ein Produkt für hippe Start-ups. Während sich der Begriff über Jahre hinweg vor allem mit urbanen Digitalnomaden und Tech-Gründern verband, zeigt ein Blick in die Gesellschaft: Der Bedarf an flexiblen, gemeinschaftlich genutzten Arbeitsorten geht weit über das klassische Freelancer-Klischee hinaus. Schüler, Eltern, Rentner – sie alle stehen vor Herausforderungen, die mit einem einzigen Wort lösbar wären: Raum.
Die stille Sehnsucht nach „Arbeitsräumen ohne Bürozwang“
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ToggleIn deutschen Städten fehlen bezahlbare Orte, an denen man ungestört arbeiten, denken oder lernen kann. Die Bibliothek ist oft zu weit entfernt oder voll, Cafés bieten keine Ruhe und das eigene Zuhause ist häufig ein Ort der Ablenkung, nicht der Konzentration.
Doch genau hier liegt das Potenzial von Coworking: Nicht als exklusives Angebot für kreative Selbstständige, sondern als offener Ort für alle, die Arbeit – in welcher Form auch immer – ernst nehmen.
Schüler brauchen Struktur – und manchmal einfach nur WLAN und Ruhe
Spätestens seit der Pandemie ist klar: Lernen zu Hause funktioniert nicht für jeden gleich gut. Schüler*innen, die zu Hause keinen ruhigen Arbeitsplatz haben, geraten schnell ins Hintertreffen. Coworking-Spaces könnten hier eine soziale Lücke füllen – als „Lernorte auf Zeit“. In manchen Städten gibt es bereits Pilotprojekte: Schüler erhalten über einen städtischen Pass Zugang zu Coworking-Zonen, ausgestattet mit Laptops, Druckern, Lerncoaches oder einfach: WLAN, Steckdose, Ruhe.
Warum sollten wir Raum nicht genauso flexibel denken wie Inhalte? Ein Coworking-Space kann für einen Nachmittag zu einem Mathe-Camp werden – oder zur Schreibwerkstatt für ein Schulprojekt. Die Infrastruktur ist vorhanden. Es fehlt nur an Vorstellungskraft.
Eltern brauchen Pausenorte – und Orte für den Wiedereinstieg
Eltern, insbesondere Mütter, die nach der Elternzeit zurück in den Job wollen, stehen vor organisatorischen wie psychologischen Hürden. Wer lange „raus“ war, fühlt sich in klassischen Büros oft deplatziert. Coworking kann hier als sanfter Einstieg dienen: flexibel, ohne Dresscode, mit Rückzugsmöglichkeiten – und idealerweise mit Kinderbetreuung in der Nähe.
Einige innovative Spaces denken bereits in diese Richtung: mit Eltern-Kind-Coworking, bei dem Spielbereich und Arbeitsplatz nebeneinander existieren. Oder mit netzwerkbasierten Mentoring-Angeboten, die den beruflichen Wiedereinstieg begleiten. Coworking wird so zum Möglichmacher, nicht nur zum Ort.
Rentner*innen wollen nicht nur spazieren gehen
Die Vorstellung, dass Menschen mit 65 nur noch ihre Freizeit verwalten wollen, ist längst überholt. Viele Ruheständler*innen sind geistig fit, hochkompetent und unterfordert. Sie möchten sich einbringen, Ideen verwirklichen, Projekte starten – aber nicht in klassischen Strukturen.
Warum also nicht Coworking für die Generation 65+? Workshops, Projektgruppen, Lerngruppen, Mentoring-Programme – Coworking kann zum intergenerationalen Treffpunkt werden, in dem Erfahrung auf Innovation trifft. Gerade in ländlichen Regionen könnte das die soziale Isolation durchbrechen und ein neues Gefühl von Sinn stiften.
Ein Space, viele Funktionen – Coworking als flexibles Gesellschaftsprodukt
All diese Zielgruppen – Schüler, Eltern, Rentner – haben eines gemeinsam: Sie brauchen keinen festen Arbeitsplatz, sondern situative Orte, die ihre Lebensrealität widerspiegeln. Orte, die sich anpassen, nicht dominieren. Genau das kann Coworking leisten.
Doch dafür muss das Produkt neu gedacht werden:
- Flexiblere Tarife: Stundengenau, familienfreundlich, mit Bildungszuschüssen.
- Zonierung statt Uniformität: Lerninseln, Ruhebereiche, Community-Zonen – statt reiner Deskflächen.
- Partnerschaften mit Schulen, Kommunen und Seniorenvereinen, um neue Zielgruppen aktiv anzusprechen.
- Programmangebote, die über reines Arbeiten hinausgehen: z. B. Coding für Schüler, Bewerbungstrainings für Eltern, Podcast-Workshops für Senioren.

Der soziale ROI: Mehr als nur ein Arbeitsplatz
Was passiert, wenn ein Raum nicht nur funktional, sondern auch emotional sinnvoll ist? Wenn dort Menschen unterschiedlicher Lebensphasen nebeneinander arbeiten, voneinander lernen und sich inspirieren? Dann wird Coworking zu einem sozialen Raum – zu einem Stück neuer Öffentlichkeit in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft.
Die Wirtschaftlichkeit solcher Konzepte darf dabei nicht unterschätzt werden. Eine höhere Auslastung über Tageszeiten hinweg, zusätzliche Fördertöpfe und eine breitere Zielgruppe machen das Modell auch betriebswirtschaftlich spannend.
Fazit: Coworking ist kein Zielgruppending – es ist eine Haltung
In einer Welt, die zunehmend durch Flexibilität, Mobilität und soziale Diversität geprägt ist, darf Coworking nicht in der Nische stecken bleiben. Es hat das Potenzial, ein offenes, inklusives und lebensnahes Produkt für viele zu werden – wenn wir aufhören, es nur als hippen Schreibtischplatz für urbane Kreative zu sehen.
Die Frage ist nicht: Wer braucht Coworking?
Sondern: Warum sollten wir uns so sehr auf feste Orte versteifen, wenn das Leben längst flexibel ist?