Wer 2025 über New Work, Remote-First und digitale Dienstleistungen spricht, muss eigentlich anerkennen: Professionelles Arbeiten hängt längst nicht mehr an der klassischen „Kanzlei-Etage mit Klingelschild“. Genau deshalb wirkt das aktuelle Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) wie ein Griff in die Mottenkiste – mit echten Nebenwirkungen für Anwält:innen, Mandant:innen und eine ganze Infrastrukturbranche.
Aus der Sicht vieler Coworking Space Betreiber ist das nicht nur eine juristische Detailfrage. Es ist ein Signal: „Modernes Arbeiten ja – aber bitte nur, wenn es so aussieht wie früher.“
Fall "Kanzlei im Coworking": Worum ging’s konkret?
Inhaltsverzeichnis
ToggleDer Fall ist schnell erklärt: Ein Berliner Rechtsanwalt nutzte als Kanzleisitz ein Bürocenter nahe dem Hauptbahnhof. Dort gab es Kanzleischild und Briefkasten, Anrufannahme durch zur Verschwiegenheit verpflichtete Mitarbeitende, digitale Erreichbarkeit (E-Mail, Website) und bei Bedarf buchbare Besprechungsräume. Persönliche Termine seien selten, aber möglich.
Die Rechtsanwaltskammer (RAK) Berlin hielt das nicht für ausreichend und verlangte den Nachweis „eigener“ Kanzleiräume. Der Anwalt klagte – und bekam zunächst Recht: Der Anwaltsgerichtshof (AGH) Berlin argumentierte modern: Der Kanzleibegriff müsse im gesellschaftlichen und technischen Wandel verstanden werden; entscheidend seien Erreichbarkeit und funktionale Vorkehrungen, nicht die dauernde Anwesenheit „in eigenen Räumen“.
Dann kam die Kehrtwende: Der BGH (Senat für Anwaltssachen) hob das Urteil auf und entschied restriktiv: Die Möglichkeit, bei Bedarf einen Besprechungsraum zu nutzen, erfüllt die Kanzleipflicht nicht.
Was der BGH (bislang) faktisch verlangt – und was nicht reicht
Wichtig: Zum Zeitpunkt der Beck-Meldung lagen die schriftlichen Entscheidungsgründe noch nicht vor; bekannt war der Tenor und die Richtung. Trotzdem ist die Leitlinie klar, weil der BGH die Klage abgewiesen hat:
- Nicht ausreichend: eine Kanzleiadresse mit Post-/Anrufservice plus „bei Bedarf“ buchbare Meetingräume.
Gefordert: ein fester, dauerhaft verfügbarer eigener Raum, in dem der Anwalt „wann auch immer“ für Mandant:innen zur Verfügung stehen kann – selbst wenn er diesen Raum in der Praxis kaum nutzt.
Der Kommentar aus der Coworking-Branche bringt eine entscheidende Nuance hinein: Coworking ist nicht pauschal verboten, sondern die rein flexible Nutzung (Open Space / Räume „auf Zuruf“) reicht nicht. Wer im Coworking einen abschließbaren Raum dauerhaft mietet, könne die Anforderungen weiterhin erfüllen (mit Blick auf § 27 BRAO).
Warum dieses Urteil „aus der Vergangenheit“ wirkt
Es verwechselt „Professionalität“ mit „Immobilienform“
Die Realität: Hochwertige Coworking- und Business-Center-Strukturen sind oft professioneller als viele Homeoffice-„Wohnzimmerkanzleien“. Genau das wird auch in der Beck-Einordnung betont: Kanzlei in der Wohnung ist verbreitet und zulässig – aber ob das aus Mandantensicht wirklich besser ist als ein Bürocenter mit Besprechungsräumen, darf man bezweifeln.
Auch der Coworking-Kommentar stellt diesen Kontrast drastisch heraus: Küchentisch vs. geschützte Räume, DSGVO-Setups, Empfang, Infrastruktur.
2) Es ignoriert, wie Beratung heute funktioniert
Gerade beratungsintensive Fachgebiete laufen digital, asynchron, dokumentengetrieben. Der Kläger war laut Beck im Umweltrecht überwiegend beratend tätig, persönliche Besprechungen selten.
Ein starres Raumdogma passt dazu nicht mehr – zumal das Berufsrecht gleichzeitig digitale Kommunikation (inkl. sicherer Kanäle) längst normalisiert hat.
3) Es trifft nicht nur Jurist:innen – sondern eine ganze „Arbeitswelt-Infrastruktur“
Der Coworking-Beitrag nennt das Urteil einen Rückschritt und kritisiert, es beschädige das Vertrauen in flexible Arbeitsmodelle und verunsichere eine ganze Branche, weil in der Öffentlichkeit schnell „Coworking verboten“ hängen bleibt.
Aus Betreibersicht ist genau diese Außenwirkung brandgefährlich: Nicht, weil Coworking „wackelig“ wäre, sondern weil das Urteil eine falsche Erzählung befeuert: geteilt = unseriös.
Was jetzt relevant ist: Praxisfolgen für Anwält:innen und Coworking-Spaces
Für Anwält:innen
Wenn Sie (oder Kolleg:innen) Coworking nutzen wollen, wird die Gestaltung entscheidend:
- Modell A (wahrscheinlich sicherer): dauerhaft angemietetes, abschließbares Privatbüro im Coworking / Business Center (eigener Raum, feste Verfügbarkeit).
Modell B (nach Tenor problematisch): reine Geschäftsadresse + Services + nur buchbare Meetingräume „bei Bedarf“.
Bis die schriftlichen Gründe veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Interpretationsspielraum – aber die Marschrichtung ist restriktiv.
Für Coworking-Betreiber
Das Urteil zwingt die Branche (zumindest im juristischen Segment) zu klareren Angeboten und Formulierungen:
- „Dedicated Office“-Pakete stärker herausstellen (eigener Raum, Zugang, Verfügbarkeit).
- Compliance-Features sauber dokumentieren: Verschwiegenheit des Personals, IT-Sicherheit, Zutrittskonzepte, Aktenlagerung/Schließfächer, Meetingraum-Policy.
Kommunikation präzisieren: Nicht „virtuelle Kanzlei“, nicht „Open Desk reicht“, sondern: fester Raum + professionelle Infrastruktur.
Coworking Betreiber kritisieren ausdrücklich die irreführende Zuspitzung mancher Berichterstattung („Coworking-Verbot“), obwohl es um eine bestimmte Nutzungsart geht.
Der eigentliche Elefant im Raum: § 27 BRAO ist zu unbestimmt für 2025
Wenn ein Gesetz nur sagt, man müsse „eine Kanzlei einrichten und unterhalten“, aber nicht sauber definiert, was im digitalen Zeitalter darunter fällt, landet man zwangsläufig bei Formalismus statt Schutzzweck.
- Beck argumentiert, nun sei der Gesetzgeber gefragt, in § 27 BRAO zu regeln, was „Kanzlei“ heute bedeutet.
Es wird ebenfalls eine Modernisierung des § 27 BRAO gefordert: Fokus auf Datenschutz, Erreichbarkeit, Professionalität – nicht Quadratmeter oder Mietvertragslogik.
Wenn das Ziel Mandantenschutz ist (Vertraulichkeit, Erreichbarkeit, Zustellbarkeit, geordnete Berufsausübung), dann muss man genau diese Kriterien messen – nicht die Besitzform von Räumen.
Ein pragmatischer Ausweg: Kanzlei-Standard statt Kanzlei-Romantik
Ein zukunftsfähiger Rahmen könnte so aussehen (als Denkanstoß, keine Rechtsberatung):
- Erreichbarkeit & Zustellung: klare Zustelladresse, dokumentierte Postprozesse.
- Vertraulichkeit: abgeschlossene Räume für Gespräche, Schallschutz-/Raumkonzept, Verschwiegenheitsverpflichtungen beim Personal.
- Datenschutz/IT: gesicherte Netze, Geräte-/Drucker-Policies, getrennte Ablagen/Schließsysteme.
- Mandantenoptionen: Möglichkeit zu Präsenzterminen ohne die Pflicht, permanent „auf Verdacht“ Raum leerstehen zu lassen.
Nachweisbarkeit: prüfbare Standards statt „Bauchgefühl“ über Seriosität.
Genau diese Logik braucht man im Jahr 2025 – nur wird sie im Ergebnis (noch) nicht zum Maßstab gemacht.
Kanzlei im Coworking Fazit: Das Urteil ist ein Warnsignal – und eine Chance zur Korrektur
Der BGH hat (nach bisher bekanntem Tenor) die Kanzlei-Pflicht so interpretiert, dass flexible Modelle selbst dann scheitern können, wenn sie in der Praxis funktionieren und professionelle Infrastruktur bieten. Gleichzeitig zeigt die Debatte: Coworking ist nicht das Problem – das Problem ist ein Rechtsrahmen, der moderne Arbeitsrealität nur in alten Raumkategorien denken kann.
Wenn Politik und Berufsstand klug sind, nutzen sie diesen Moment für eine saubere, zeitgemäße Definition: Schutzzwecke klar, Standards messbar, Arbeitsformen offen. Dann gewinnen alle: Mandant:innen, Anwält:innen – und eine Arbeitswelt, die 2025 nicht mehr so tut, als wäre 1995.
